Tante war -genau wie ihre Schwester- eigentlich eine Großtante.
Aber anders als ihre Schwester, war sie nicht verheiratet und legte daher großen wert darauf, dass man sie mit "Fräulein" anredete.
Das Leben eines Fräuleins wurde schwerer, je älter man wurde.
Darüber klagte Tante oft.
Da aber niemand zuhören wollte, schwieg sich Tante aus, in dem sie mit mir über den Friedhof spazierte.

Wenn ich Oma fragte, weshalb Tante so komisch sei, sagte sie,
Tante habe als junge Frau einmal einen Mann gekannt.
Das fand ich noch komischer, denn schließlich war ich noch Kind und kannte auch schon mindestens zwei Männer,
Onkel und Vaters Arbeitskollegen.
Tante war leicht beleidigt, presste dann die Lippen aufeinander und zischte böse Sachen.
Besonders böse wurde sie wenn ihre Schwester ihr sagte, dass sie verheiratet sei und nicht immer ihr Kindermädchen sein könne.
Die Vorstellung, dass Tante ein Kindermädchen brauchte, amüsierte mich und ich stellte mir vor,
dass meine beiden Tanten zu Hause im Wohnzimmer Gummitwist spielten. Oder Flummi.
Bei mir waren beide immer besorgt, dass ich etwas kaputt machen könnte.

Tante hatte keine Freundinnen, aber ein paar Bekannte, die auch Fräulein waren und mit denen sie sich manchmal traf.
Zwei Fräulein, mit denen Tante sich zwar hin und wieder unterhielt, sich aber nie mit ihnen traf,
führten ein Schreibwarengeschäft mit kleiner Druckerei für Todesanzeigen und Beileidskarten.
Die Tür zu dem Geschäft war ein einfacher weißer Holzrahmen, mit einer großen Glasscheibe und einer goldenen Türklinke.
Wenn man sie öffnete, ertönte eine Glocke. Da das Geschäft fast immer leer war, kamen beide Fräulein bei
Ertönen der Glocke langsam und ganz in schwarz gekleidet aus einem Hinterzimmer.
Das Licht wurde fast nie eingeschaltet.
Beide waren groß und schlank und ich dachte, bei Licht sähen sie vielleicht aus wie Tante Tilly aus der Palmolive-Reklame.
Seit ich jedoch Catweazle im Fernsehen gesehen hatte, machten mir beide immer etwas Angst.
Ich ging nicht gerne mit Tante dorthin.

Im Geschäft gab es Vitrinen, die wie ein "u" gestellt waren.
In den Vitrinen waren Schubladen, in denen wiederum feines Papier lag, Füllfederhalter, Tintenfässer und Farbbänder für Schreibmaschinen.
Malstifte gab es keine, nicht einmal normale Füller.

Wenn Tante mit ihren Bekannten sprach, sprach sie von mir immer nur als "Das Kind".
Die beiden mochten aber keine Kinder und sagten das auch gerne.
Einmal, als das Gespräch länger dauerte, fragte ich Tante: "Was ist das?",
und drückte mit meinem Finger gegen das Glas der Vitrine.
Die beiden Fräulein wurden plötzlich ganz wild und laut und schimpften mit meiner Tante, weil sie mich aus den Augen gelassen hatte.
Tante riss mich am Arm zu sich und begann ihrerseits mit mir zu schimpfen, weil ich nicht still gestanden hatte.

Natürlich musste sie mit mir danach direkt zu ihrer Schwester gehen und erzählen, dass ich im Schreibwarengeschäft die Vitrine beschmiert hatte.
Ich schaute dabei schuldbewusst auf den Boden.

Als Tante fertig erzählt hatte, sagte ich leise:
"Darf ich etwas fragen?"

"Kind", antwortete Tante,
"wer nicht fragt, bleibt dumm."