Da ich gestern zu einem Einkaufszentrum außerhalb der Stadt wollte, war ich gut 30 Minuten mit dem Bus unterwegs.
Ich saß vorne entgegen der Fahrtrichtung, in der Mitte des Busses saß in Fahrtrichtung ein doch schon sehr
korpulenter Herr,
Mitte fünfzig,
der für sich und seine Einkaufstaschen zwei Sitzplätze benötigte.
Wie ich ihn so ansah, fiel mir auf, dass er sauber, aber mit seinem Anzug für einen Wochenendeinkauf leicht
unpassend gekleidet war,
gerade so, als sei er morgens noch von
einer wohlmeinenden Mama angezogen worden.
Seine Gesichtszüge deuteten auf einen sensiblen, freundlichen Menschen hin,
während seine Mimik und Gestik deutlich Enttäuschung verrieten.
Wie bei dem sprichwörtlich geprügelten Hund,
jemandem, der vom Leben nicht mehr viel erwartet.

Und ganz plötzlich, ich weiß nicht wie, kam mir der Gedanke:
»Der ist als Kind beim Völkerball bestimmt immer als letzter gewählt worden«.
Ich dachte an meine eigene Klasse zurück, an Herrn K., mit Sonnenbrille und Goldkettchen, stets gebräunt,
durchtrainiert und Porsche 911-Fahrer.
Leider aber auch der Inbegriff von Ungerechtigkeit und Willkür.
Wer zu unbeweglich war, wer zu langsam oder zu dick war, der hatte keine Chance und wurde fortwährend gequält und vorgeführt.
Herr K. bevorzugte sportliche blonde Mädchen der oberen Klassen.

Wir waren die 5a.
Wir haben ihn gehasst.

Purzelbäume auf den stinkenden blauen Matten, ja, das ging ja noch.
Im Hindernislauf über aufgestellte Kästen laufen, das war auch nicht schwer.
Im Zickzack mit beiden Beinen gleichzeitig über die Holzbänke springen, wurde schon schwieriger,
aber dann kam das Bockspringen über den Partner.
Herr K. hatte einen sadistischen Spaß daran, den Kleinen und Dicken beim Scheitern zuzusehen und sie dann genüsslich zu bestrafen.

»Ab an die Sprossenwand!«
Muss ich mehr sagen?

»Medizinbälle raus! Zuwerfen, aber dalli, ich will Bewegung sehen!«
Mithilfe von Seilen (»Das kann doch nicht so schwer sein, das kann jeder Affe!«),
Pferd und Reck blieb zum Ende der Sportstunde kaum noch einer von uns übrig.

Geknickt, mit Tränen und blauen Flecken schlichen wir in die Umkleide.
Hart traf es übrigens auch die Turnbeutelvergesser.
Davor hatten wir alle Angst. Nur nicht die Sportsachen vergessen...

Meine sportlichen Leitungen waren ganz passabel, trotzdem zitterte ich in jeder Sportstunde
vor Herrn K. und versuchte möglichst unsichtbar zu sein.
Es waren mit die schlimmsten Stunden meiner Schulzeit.
Damals, ich gebe es offen zu, habe ich Herrn K. dasselbe Schicksal wie James Dean gewünscht.

Heute frage ich mich eher, was aus uns geworden ist, der 5a.
Was machen »die letzten vom Völkerball« heute?
Da ich nach der fünften Klasse die Schule gewechselt habe,
kann ich mich nur noch dunkel an ein paar wenige Mitschüler erinnern.
Aber die Tatsache, dass mir angesichts dieses traurig aussehenden Menschen im Bus
auch nach 40 Jahren noch Lehrer K. einfällt, spricht wohl für sich.